16.02.2013

Wayra fina - Wie der Wind


08. Februar 2013: Beinahe Halbzeit


Ich erinnere mich wie ich vor 6 Monaten an einem schwülen Abend aus der Maschine von LAN Airlines in Santa Cruz de la Sierra ausstieg. Mit der Entsendeorganisation Volunta, Deutsches Rotes Kreuz, habe ich meine Reise angetreten und arbeite vor Ort mit der Partnerorganisation Hostelling International Bolivia in dem kleinen Dorf Alcalá, das 4 Busstunden südlich von der Hauptstadt Sucre entfernt liegt. 

Da die Sommerferien jetzt zu Ende gehen, habe ich in den letzten 2 Wochen Alternativarbeiten übernommen. Jeden Morgen ab 8 Uhr fiel etwas Neues an: Ob Türen neu lackieren, Wände streichen oder Werkzeuge sauber machen, ich konnte mich jedenfalls nie sehr lang langweilen.

Und diesen Montag sollte eigentlich landesweit die Schule wieder anfangen, aber da ja ganz überraschenderweise auch Karneval ist, kommen die meisten Kinder und Jugendlichen sowieso erst nach dem Wochenende zurück. Mit den Kindern, die trotzdem schon in die Schule kamen haben wir das neue Schuljahr vorbereitet: Klassenräume geputzt, im Schulgarten Unkraut gerupft, neues Gemüse angebaut und und und.

Jetzt sitze ich braungebrannt von der Sonne und von den Ameisen zerbissen auf dem Balkon und freue mich wie ein kleines Kind auf Karneval. Am Sonntag fängt alles an, da wird das ganze Dorf wieder bis zum Morgengrauen zusammen feiern um dann zusammen raus auf’s Land zu laufen. Traditionell wird da frisch gemolkene, warme Kuhmilch mit purem Alkohol getrunken und dann eine Wasserschlacht mit Wasserbomben veranstaltet – mitten im Nirgendwo. Das wird der Wahnsinn.



Schwarz und weiß. Arm und reich. Hell und dunkel. Hoch und tief. Dick und dünn. Kalt und heiß. Nah und fern. Nichts haben oder alles wollen.


Nun habe ich ein halbes Jahr hier in Bolivien gelebt, versucht Land, Leute und Politik zu verstehen, bolivianische Ausdrucksformen gelernt, sowie mich an die ganzen Schimpfwörter und Komplimente gewöhnt. Ich könnte so viel erzählen, was Bolivien für mich ausmacht! Um mit ein paar Gedanken anzufangen 

Ich wundere mich kein Stück, wenn ich an der Kasse Bonbons anstatt von 20 Centavos bekomme, weil es wie immer kein Wechselgeld gibt    Ich bin froh an bolivianischen Landesgrenzen keine Amerikanerin zu sein, weil diese nämlich 150 US Dollar für die Einreise bezahlen müssen (Unser Präsident Evo Morales kritisiert die Regierung der Vereinigten Staaten immer mal wieder gerne dafür, dass sie Gegner des Koka, des heiligen Blatts, sind, das so sehr zum Land gehört wie sein Volk)     Ich werde mit offenen Armen und offenen Türen begrüßt, hatte nie Probleme hier „Ausländerin“ zu sein, denn hier sind neue Leute immer willkommen und werden immer auf die obligatorische Tasse Tee eingeladen. Ich darf am Leben vieler Bolivianer teilnehmen und bin Freundin und Tochter  … 

Ich gebe winzigen, gebückten, Indiofrauen einen kleinen Obulus und höre direkt danach von der Verkäuferin am Kiosk, dass das nicht nötig sei, die Regierung tue genug, dass keiner betteln müsse    Ich versuche in den Flotas immer möglichst weit vorne und am Fenster zu sitzen, weil es hinten so sehr wackelt, wenn der Bus über die Schotterstraßen fetzt    Ich besuche an einem Samstag den bunt geschmückten Friedhof in Sucre, sehe die mit Plastikspielzeug geschmückten Kindergräber und denke an die riesige Kluft von der Lebenserwartung hier und bei uns in Europa    Ich sehe an den Busbahnhöfen ausgedruckte Vermisstenanzeigen von Personen, die einfach verschwunden sind   
Ich fahre mit 9 Freunden im Taxi in Sucre zur Disco (2 auf dem Beifahrersitz, 2 im Kofferraum, 4 hinten und einer quer über alle drüber gelegt) und hoffe bei jeder Kreuzung, dass der Fahrer laut genug hupt damit wir Vorfahrt haben (Ampeln sind egal, Fußgänger sowieso – trotzdem passiert mysteriöserweise nie was)    Ich mache bei jedem Gespräch mit neuen Leuten klar, dass ich gar kein Touri bin. Da sind sie immer gleich noch viel netter    Ich ertappe mich dabei, mit den Anderen Witze über die Chilenen zur machen nur weil sie uns damals im Pazifikkrieg (1879-1884) den Meerzugang abgenommen haben    Ich lasse es mittlerweile nach dem Weg zu fragen – Ist sowieso falsch! 

Ich kaufe selbstverständlich Dynamit am Kiosk, um auf einem Feld weiter außerhalb mit einheimischen Freunden die Dorffiestas auf ihre Art anzukündigen    Ich trinke abends „Porito“ (pure Teeblätter in heißem Wasser, das durch einen Metallstrohhalm getrunken wird) auf unserem Balkon und lasse die Ruhe unseres kleinen Dorfes auf mich wirken    Ich habe den neuen Spieleraum für die Kinder in Alcalá neu gestrichen, weil der alte Raum aufgekauft wurde und doch tatsächlich dort eine kleine „Eisdiele“ aufgemacht hat    Ich halte einen Eimer unter den Kopf von einem fetten Huhn, das unser Don für das Mittagessen schlachtet 

Ich kaufe eine Wassermelone direkt vom Lastwagen, der grade im Dorf hält, und treffe nur alte, kokakauende Bauern, weil die meisten Alcaleños noch nicht von den Ferien aufs Dorf zurückgekehrt sind  ...  Ich warte darauf, dass das Kranenwasser wieder durchsichtig wird und nicht mehr leicht braun, wie jetzt in der Regenzeit. Das macht aber nichts, trinken kann man’s trotzdem    Ich grüße Doña Mercedes, die wie immer auf ihrer Bank vor der Plaza in Alcalá sitzt und schon ab 9h morgens Mittagessen verkauft und alle mit ihren Goldzähnen strahlend anlächelt 

Ich habe gelernt perfekt mit Flipflops über lose Felsen zu klettern und Folklore zu tanzen    Ich habe eine Engelsgeduld entwickelt, wenn man an den kleinen Tiendas etwas kaufen möchte und die Verkäufer erst noch eine Runde quatschen möchten, um dann erst nach hinten zu gehen und jemand anderen um den Verkauf zu bitten oder wenn man einfach mal mehrere Stunden auf einen Bus warten muss    Und ich habe keine Angst mehr wenn mir beim Joggen eine Herde freilaufende Stiere entgegenkommt 


Und nun ist auch schon der Rückflug gebucht: Wenn das Flugzeug nicht abstürzt, lande ich am 19. August um 18h in Frankfurt. Und die Zeit verfliegt, so schnell wie der Wind.

que seamos imparables!




15. Februar 2013: Carnaval alcaleño

Freitagvormittag haben wir Kinderkarneval in der Schule gemacht, wobei die Kinder erst, wie es der Brauch ist, Wasserschlachten auf dem Schulhof gemacht haben und dann zu Musik aus einem Pick-Up mit Boxen von der Schule aus zur Plaza, also zur Dorfmitte, tanzen sollten. Da gab es dann eine Mini-Sortija, eine Tradition, in der Reiter mit einem Stöckchen versuchen müssen, gallopierend durch ein Zielscheibe zu pieksen. Hierbei haben die Jungs aus der Schule aber Steckenpferde gehabt und ein Glas mit Fanta gewonnen, wenn sie es geschafft haben.


Tanzend in Richtung Plaza



Wasser- und Schaumschlacht



Mini-Sortija auf Steckenpferden


..durch die Zielscheibe



Samstag fing es dann richtig an. Gegen Mittag sind alle Leute in das Haus von einem meiner Freunde gegangen, weil seine Familie dieses Jahr Karneval dran war, eine Fiesta zu veranstalten. Im Dorf gibt es eine Art Runde und verschiedene Familien müssen abwechselnd Fiestas zu Feiertagen wie Weihnachten, Karneval, Ostern und so weiter  geben. Der Ablauf ist dann immer derselbe: Es trudeln immer mehr Leute ein, dafür wird der Vorraum leergeräumt damit Platz zum tanzen ist oder die Fiesta findet direkt nur im Hof statt, und jeder bekommt einen Teller mit Essen in die Hand gedrückt, meistens das traditionelle Pollo Picante, Kartoffeln, Reis und Hühnchen in scharfer Soße. Normalerweise wird danach direkt allen Grüppchen von Freunden und Familien die zusammenstehen ein Eimer Chicha gegeben und es wird angefangen zu trinken, weil aber Karneval ist war erst mein persönliches Highlight dran: die Wasserschlachten. Alle gegen alle, in Bechern, Eimern mit Wasserbomben und Wasserpistolen (nur die alten Menschen haben nur zugesehen). Zwischendurch haben wir natürlich immer wieder getrunken und uns von der Sonne trocknen lassen bis dann abends weiter außerhalb der Dorfes Sortija, diesmal für Erwachsene, war, dasselbe wie schon beim Kinderkarneval nur mit echten Pferden und einer Flasche Chicha als Preis, für alle die die Platte mit der Zielscheibe treffen. Als es dunkel war, sind viele wieder zur Plaza im Dorf gepilgert, wo Freunde einfach ihr Auto hingestellt haben und mit voller Lautstärke das ganze Dorf mit Musik beschallt haben. Und wir haben einfach auf der Straße getanzt! So ging es eine Weile bis um Mitternacht, als wir die Musik ausmachen mussten und alle Jugendlichen aus Alcalá sich im Pavillion der Plaza in einer Runde hingesetzt haben um mit Gitarre, Charangos und Flöten bis zum Morgengrauen Lieder zu singen.

                        Fleisch vom Grill und natuerlich der obligatorische Eimer Chicha




So fangen die Fiestas an..


Im Hintergrund die Hefezoepfe und andere Gaben, 
die der zukuenftigen Gastgeberfamilie gewidmet werden
 



Sonntagmorgen bin ich durch die Musik im Dorf geweckt worden. Die Leute haben ein paar Stände aufgebaut um Essen zu verkaufen und Boxen auf die Straße gestellt. Dann ging es auch schon zur nächsten Familie, die eingeladen hatte. Nachmittags lernte ich dann noch eine neue Tradition kennen: Die Gastgeberfamilie gibt allen den Namen der Familie bekannt, die nächstes Jahr einlädt und diese wird tanzend und mit Luftschlangen behangen zu ihrem Haus begleitet mit Essen, Hefezöpfen und natürlich Chicha als Zeichen der Erinnerung ihrer Aufgabe. Und weil es um Karneval herum hier öfter kleine Schauer gibt, haben wir einfach im Regen weitergetanzt. Danach waren Comparsas dran, was bedeutet, dass verschiedenen Gruppen, ob verkleidet oder nicht, begleitet von Musik um die Plaza und durchs ganze Dorf tanzen müssen und dabei von allen drumherumstehenden Zuschauern nass gespritzt werden. Wer dann noch konnte hat den nächsten Hof einer einladenden Familie gesucht um noch beisammen zu sein, einen Teller zu essen und Chicha zu trinken.


An Festtagen wird generell nur geritten, nicht gegangen :D


Folklore, immer und ueberall


Die tanzenden Gruppen



Abendessen und zum Nachttisch ein dezenter Eimer Chicha :-)


Der Krug war leer, es ist nicht wonach es aussieht.



Dann, am Montag, gingen alle wie jedes Jahr auf’s Land, nach Garzas Grandes, einem Aussenweiler von Alcalá. Mit Lastwagen sind alle aus dem Dorf dorthin gefahren, dort waren dann Zelte aufgebaut in denen Frauen Essen und Getränke verkauft haben. Traditionell haben wir frisch gemolkene Kuhmilch mit ein wenig purem Alkohol und Zucker getrunken, das Getränk dieses Tages. Außerdem wurden Kühe gebrandmarkt, und zum Dank an Mutter Erde Pachamama mit Chicha übergossen und Konfetti bestreut. Als alle Kühe die Brandzeichen hatten, wurde das Kennzeichen in Farbe getunkt und wir wurden von den Eigentümern über den Platz gejagt damit er uns nicht seine Initialen aufstempelt. Fast zum Schluss der Fiesta haben dann noch ein paar Mädels mit Cholita-Trachten getanzt.

Auf der Ladeflaeche von diesem Lastwagen sind wir alle nach Garzas gefahren



Hier wird grade die Milch fuer die Drinks gemolken




Eines meiner vielen Kinder



Der Buergermeister mit dem Brandeisen fuer die Kuehe


Brandmarken und..


..Ehrung durch Chicha und Konfetti zum Dank an Pachamama.



Wir konnten leider nicht schnell genug fliehen und haben
 auch unser Kennzeichen wie die Kuehe bekommen..


 Traditionelle Taenze




Am Dienstag war Tag des Challa, dabei wird all das was einem gehört und am wertvollsten ist, normalerweise sein Haus, sein Auto oder sein Motorrad, mit Luftschlangen und Konfetti dekoriert und mit Bier abgespritzt. Auch das ist eine Art Danksagung an die Pachamama dafür, dass sie uns diese Dinge gegeben hat. Außerdem werden Figuren aus Zucker und Kräuter in brennende Kohle geworfen und der duftende Rauch durch die Zimmer des Hauses getragen.
Ich selbst habe das mit einer befreundeten Familie gemacht und sie mit aufs Land begleitet, zu einem Fluss, wo sie ihr Grundstück mit dieser Tradition beehren wollten. Also sind wir vormittags los, haben alle Apfelbäume des Grundstücks mit Luftschlangen umwickelt und die Opferstelle der Pachamama mit Bier bespritzt und Konfetti bestreut. Dann haben wir zusammen gegrillt und mir wurde beigebracht auf einem Pferd zu reiten.








Am Mittwoch, der wirklich letzte Tag des Karneval, haben wir mit der Familie den ganzen Mittag gegrillt und sind dann noch mit ein paar Freunden zu einem Nachbardorf, Padilla, gefahren, weil dort immer noch Märkte aufgebaut waren und viel Bier getrunken wurde.

Frisches Fleisch fuer den Grill!

 
Ich beim Pepperoni mahlen fuer scharfe Sosse, Llajua



Die Hostelfamilie :-)



Heute ist Freitag und eigentlich sollte nach diesem Wochenende am Montag die Schule wieder anfangen, wenn da nicht diese Tragödie passiert wäre.
In der Regenzeit gib es öfter heftige Schauer bei uns, die die Flüsse voller werden lassen und manchmal kommt es vor, dass es weiter oben in den Bergen regnet, der Fluss sich füllt und gigantische Stromschnellen Richtung Tal herangerast kommen.
Und diese Stromschnellen sind so stark, mit ihren Baumstämmen und Steinen die sie mitspülen, dass sie alles mitreißen was am Ufer ist. So ist gestern das schreckliche Unglück geschehen, dass eine Mutter ihre Kinder nach Hause aufs Land geschickt hat und sie mussten auf dem Weg an einigen Stellen den Fluss überqueren (ohne Brücken versteht sich). Auf einmal kam die Welle von flussaufwärts und riss eins der Kinder in den Tod. Weit hinter unserem Dorf, flussabwärts haben sie das Kind nach einigen Stunden gefunden. Nun ist das ganze Dorf natürlich erschüttert, denn auch wenn das öfter passiert (vor 2 Monaten zum Beispiel haben 2 Kinder am Fluss gespielt und wurden von einer Welle mitgerissen), sind die Eltern, die auf dem Land leben, nun voller Angst ihre Kinder runter ins Dorf zur Schule zu schicken. So werden wir wahrscheinlich noch etwas auf die Schüler warten müssen, bis die Regenzeit vorbei ist und die Kinder vom Land ihren Schulweg sicher zurücklegen können.

So weit die neuesten Nachrichten aus Alcalá, Bolivien. Ich schicke warme Grüße nach Deutschland.

que seamos imparables!

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