08. Februar 2013: Beinahe Halbzeit
Ich erinnere mich wie ich vor 6 Monaten an einem schwülen
Abend aus der Maschine von LAN Airlines in Santa Cruz de la Sierra ausstieg.
Mit der Entsendeorganisation Volunta, Deutsches Rotes Kreuz, habe ich meine
Reise angetreten und arbeite vor Ort mit der Partnerorganisation Hostelling
International Bolivia in dem kleinen Dorf Alcalá, das 4 Busstunden südlich von
der Hauptstadt Sucre entfernt liegt.
Da die Sommerferien jetzt zu Ende gehen, habe ich in den
letzten 2 Wochen Alternativarbeiten übernommen. Jeden Morgen ab 8 Uhr fiel
etwas Neues an: Ob Türen neu lackieren, Wände streichen oder Werkzeuge sauber
machen, ich konnte mich jedenfalls nie sehr lang langweilen.
Und diesen Montag sollte eigentlich landesweit die Schule
wieder anfangen, aber da ja ganz überraschenderweise auch Karneval ist, kommen
die meisten Kinder und Jugendlichen sowieso erst nach dem Wochenende zurück.
Mit den Kindern, die trotzdem schon in die Schule kamen haben wir das neue
Schuljahr vorbereitet: Klassenräume geputzt, im Schulgarten Unkraut gerupft,
neues Gemüse angebaut und und und.
Jetzt sitze ich
braungebrannt von der Sonne und von den Ameisen zerbissen auf dem Balkon und
freue mich wie ein kleines Kind auf Karneval. Am Sonntag fängt alles an, da
wird das ganze Dorf wieder bis zum Morgengrauen zusammen feiern um dann
zusammen raus auf’s Land zu laufen. Traditionell wird da frisch gemolkene,
warme Kuhmilch mit purem Alkohol getrunken und dann eine Wasserschlacht mit
Wasserbomben veranstaltet – mitten im Nirgendwo. Das wird der Wahnsinn.
Schwarz und weiß. Arm und reich. Hell und dunkel. Hoch und
tief. Dick und dünn. Kalt und heiß. Nah und fern. Nichts haben oder alles
wollen.
Nun habe ich ein halbes Jahr hier in Bolivien gelebt,
versucht Land, Leute und Politik zu verstehen, bolivianische Ausdrucksformen
gelernt, sowie mich an die ganzen Schimpfwörter und Komplimente gewöhnt. Ich
könnte so viel erzählen, was Bolivien für mich ausmacht! Um mit ein paar
Gedanken anzufangen …
Ich wundere mich kein Stück, wenn
ich an der Kasse Bonbons anstatt von 20 Centavos bekomme, weil es wie immer
kein Wechselgeld gibt … Ich bin froh an bolivianischen Landesgrenzen keine
Amerikanerin zu sein, weil diese nämlich 150 US Dollar für die Einreise
bezahlen müssen (Unser Präsident Evo Morales kritisiert die Regierung der
Vereinigten Staaten immer mal wieder gerne dafür, dass sie Gegner des Koka, des
heiligen Blatts, sind, das so sehr zum Land gehört wie sein Volk) … Ich
werde mit offenen Armen und offenen Türen begrüßt, hatte nie Probleme hier
„Ausländerin“ zu sein, denn hier sind neue Leute immer willkommen und werden
immer auf die obligatorische Tasse Tee eingeladen. Ich darf am Leben vieler
Bolivianer teilnehmen und bin Freundin und Tochter …
Ich gebe winzigen, gebückten,
Indiofrauen einen kleinen Obulus und höre direkt danach von der Verkäuferin am
Kiosk, dass das nicht nötig sei, die Regierung tue genug, dass keiner betteln
müsse …
Ich versuche in den Flotas immer möglichst weit vorne und am Fenster zu
sitzen, weil es hinten so sehr wackelt, wenn der Bus über die Schotterstraßen
fetzt …
Ich besuche an einem Samstag den bunt geschmückten Friedhof in Sucre,
sehe die mit Plastikspielzeug geschmückten Kindergräber und denke an die
riesige Kluft von der Lebenserwartung hier und bei uns in Europa … Ich
sehe an den Busbahnhöfen ausgedruckte Vermisstenanzeigen von Personen, die
einfach verschwunden sind …
Ich fahre mit 9 Freunden im Taxi
in Sucre zur Disco (2 auf dem Beifahrersitz, 2 im Kofferraum, 4 hinten und
einer quer über alle drüber gelegt) und hoffe bei jeder Kreuzung, dass der
Fahrer laut genug hupt damit wir Vorfahrt haben (Ampeln sind egal, Fußgänger
sowieso – trotzdem passiert mysteriöserweise nie was) … Ich
mache bei jedem Gespräch mit neuen Leuten klar, dass ich gar kein Touri bin. Da
sind sie immer gleich noch viel netter
… Ich ertappe mich dabei, mit den
Anderen Witze über die Chilenen zur machen nur weil sie uns damals im
Pazifikkrieg (1879-1884) den Meerzugang abgenommen haben … Ich
lasse es mittlerweile nach dem Weg zu fragen – Ist sowieso falsch! …
Ich kaufe selbstverständlich
Dynamit am Kiosk, um auf einem Feld weiter außerhalb mit einheimischen Freunden
die Dorffiestas auf ihre Art anzukündigen
… Ich trinke abends „Porito“
(pure Teeblätter in heißem Wasser, das durch einen Metallstrohhalm getrunken
wird) auf unserem Balkon und lasse die Ruhe unseres kleinen Dorfes auf mich
wirken …
Ich habe den neuen Spieleraum für die Kinder in Alcalá neu gestrichen,
weil der alte Raum aufgekauft wurde und doch tatsächlich dort eine kleine
„Eisdiele“ aufgemacht hat … Ich halte einen Eimer unter den Kopf von
einem fetten Huhn, das unser Don für das Mittagessen schlachtet …
Ich kaufe eine Wassermelone direkt vom Lastwagen, der grade
im Dorf hält, und treffe nur alte, kokakauende Bauern, weil die meisten
Alcaleños noch nicht von den Ferien aufs Dorf zurückgekehrt sind ... Ich
warte darauf, dass das Kranenwasser wieder durchsichtig wird und nicht mehr
leicht braun, wie jetzt in der Regenzeit. Das macht aber nichts, trinken kann
man’s trotzdem … Ich grüße Doña Mercedes, die wie immer auf
ihrer Bank vor der Plaza in Alcalá sitzt und schon ab 9h morgens Mittagessen
verkauft und alle mit ihren Goldzähnen strahlend anlächelt …
Ich habe gelernt perfekt mit Flipflops über lose Felsen zu
klettern und Folklore zu tanzen … Ich habe eine Engelsgeduld entwickelt, wenn
man an den kleinen Tiendas etwas kaufen möchte und die Verkäufer erst noch eine
Runde quatschen möchten, um dann erst
nach hinten zu gehen und jemand anderen um den Verkauf zu bitten oder wenn man
einfach mal mehrere Stunden auf einen Bus warten muss … Und
ich habe keine Angst mehr wenn mir beim Joggen eine Herde freilaufende Stiere
entgegenkommt …
Und nun ist auch schon der Rückflug gebucht: Wenn das
Flugzeug nicht abstürzt, lande ich am 19. August um 18h in Frankfurt. Und die
Zeit verfliegt, so schnell wie der Wind.
que seamos
imparables!
15.
Februar 2013: Carnaval alcaleño
Freitagvormittag haben wir Kinderkarneval in der Schule
gemacht, wobei die Kinder erst, wie es der Brauch ist, Wasserschlachten auf dem
Schulhof gemacht haben und dann zu Musik aus einem Pick-Up mit Boxen von der
Schule aus zur Plaza, also zur
Dorfmitte, tanzen sollten. Da gab es dann eine Mini-Sortija, eine Tradition, in der Reiter mit einem Stöckchen
versuchen müssen, gallopierend durch ein Zielscheibe zu pieksen. Hierbei haben
die Jungs aus der Schule aber Steckenpferde gehabt und ein Glas mit Fanta
gewonnen, wenn sie es geschafft haben.
Tanzend in Richtung Plaza
Wasser- und Schaumschlacht
Mini-Sortija auf Steckenpferden
..durch die Zielscheibe
Samstag fing es dann richtig an. Gegen Mittag sind alle
Leute in das Haus von einem meiner Freunde gegangen, weil seine Familie dieses
Jahr Karneval dran war, eine Fiesta zu veranstalten. Im Dorf gibt es eine Art
Runde und verschiedene Familien müssen abwechselnd Fiestas zu Feiertagen wie
Weihnachten, Karneval, Ostern und so weiter
geben. Der Ablauf ist dann immer derselbe: Es trudeln immer mehr Leute
ein, dafür wird der Vorraum leergeräumt damit Platz zum tanzen ist oder die
Fiesta findet direkt nur im Hof statt, und jeder bekommt einen Teller mit Essen
in die Hand gedrückt, meistens das traditionelle Pollo Picante, Kartoffeln, Reis und Hühnchen in scharfer Soße.
Normalerweise wird danach direkt allen Grüppchen von Freunden und Familien die
zusammenstehen ein Eimer Chicha
gegeben und es wird angefangen zu trinken, weil aber Karneval ist war erst mein
persönliches Highlight dran: die Wasserschlachten. Alle gegen alle, in Bechern,
Eimern mit Wasserbomben und Wasserpistolen (nur die alten Menschen haben nur
zugesehen). Zwischendurch haben wir natürlich immer wieder getrunken und uns
von der Sonne trocknen lassen bis dann abends weiter außerhalb der Dorfes Sortija, diesmal für Erwachsene, war, dasselbe
wie schon beim Kinderkarneval nur mit echten Pferden und einer Flasche Chicha als Preis, für alle die die
Platte mit der Zielscheibe treffen. Als es dunkel war, sind viele wieder zur Plaza im Dorf gepilgert, wo Freunde
einfach ihr Auto hingestellt haben und mit voller Lautstärke das ganze Dorf mit
Musik beschallt haben. Und wir haben einfach auf der Straße getanzt! So ging es
eine Weile bis um Mitternacht, als wir die Musik ausmachen mussten und alle
Jugendlichen aus Alcalá sich im Pavillion der Plaza in einer Runde hingesetzt haben um mit Gitarre, Charangos und Flöten bis zum
Morgengrauen Lieder zu singen.
Fleisch vom Grill und natuerlich der obligatorische Eimer Chicha
Fleisch vom Grill und natuerlich der obligatorische Eimer Chicha
So fangen die Fiestas an..
Im Hintergrund die Hefezoepfe und andere Gaben,
die der zukuenftigen Gastgeberfamilie gewidmet werden
Sonntagmorgen bin ich durch die Musik im Dorf geweckt
worden. Die Leute haben ein paar Stände aufgebaut um Essen zu verkaufen und
Boxen auf die Straße gestellt. Dann ging es auch schon zur nächsten Familie,
die eingeladen hatte. Nachmittags lernte ich dann noch eine neue Tradition
kennen: Die Gastgeberfamilie gibt allen den Namen der Familie bekannt, die
nächstes Jahr einlädt und diese wird tanzend und mit Luftschlangen behangen zu
ihrem Haus begleitet mit Essen, Hefezöpfen und natürlich Chicha als Zeichen der Erinnerung ihrer Aufgabe. Und weil es um
Karneval herum hier öfter kleine Schauer gibt, haben wir einfach im Regen
weitergetanzt. Danach waren Comparsas dran,
was bedeutet, dass verschiedenen Gruppen, ob verkleidet oder nicht, begleitet
von Musik um die Plaza und durchs
ganze Dorf tanzen müssen und dabei von allen drumherumstehenden Zuschauern nass
gespritzt werden. Wer dann noch konnte hat den nächsten Hof einer einladenden
Familie gesucht um noch beisammen zu sein, einen Teller zu essen und Chicha zu trinken.
An Festtagen wird generell nur geritten, nicht gegangen :D
Folklore, immer und ueberall
Die tanzenden Gruppen
Abendessen und zum Nachttisch ein dezenter Eimer Chicha :-)
Der Krug war leer, es ist nicht wonach es aussieht.
Dann, am Montag, gingen alle wie jedes Jahr auf’s Land, nach
Garzas Grandes, einem Aussenweiler
von Alcalá. Mit Lastwagen sind alle aus dem Dorf dorthin gefahren, dort waren
dann Zelte aufgebaut in denen Frauen Essen und Getränke verkauft haben.
Traditionell haben wir frisch gemolkene Kuhmilch mit ein wenig purem Alkohol
und Zucker getrunken, das Getränk dieses Tages. Außerdem wurden Kühe
gebrandmarkt, und zum Dank an Mutter Erde Pachamama
mit Chicha übergossen und Konfetti
bestreut. Als alle Kühe die Brandzeichen hatten, wurde das Kennzeichen in Farbe
getunkt und wir wurden von den Eigentümern über den Platz gejagt damit er uns
nicht seine Initialen aufstempelt. Fast zum Schluss der Fiesta haben dann noch
ein paar Mädels mit Cholita-Trachten
getanzt.
Auf der Ladeflaeche von diesem Lastwagen sind wir alle nach Garzas gefahren
Hier wird grade die Milch fuer die Drinks gemolken
Eines meiner vielen Kinder
Der Buergermeister mit dem Brandeisen fuer die Kuehe
Brandmarken und..
..Ehrung durch Chicha und Konfetti zum Dank an Pachamama.
Wir konnten leider nicht schnell genug fliehen und haben
auch unser Kennzeichen wie die Kuehe bekommen..
Traditionelle Taenze
Am Dienstag war Tag des Challa,
dabei wird all das was einem gehört und am wertvollsten ist, normalerweise
sein Haus, sein Auto oder sein Motorrad, mit Luftschlangen und Konfetti
dekoriert und mit Bier abgespritzt. Auch das ist eine Art Danksagung an die Pachamama dafür, dass sie uns diese
Dinge gegeben hat. Außerdem werden Figuren aus Zucker und Kräuter in brennende
Kohle geworfen und der duftende Rauch durch die Zimmer des Hauses getragen.
Ich selbst habe das mit einer befreundeten Familie gemacht
und sie mit aufs Land begleitet, zu einem Fluss, wo sie ihr Grundstück mit
dieser Tradition beehren wollten. Also sind wir vormittags los, haben alle
Apfelbäume des Grundstücks mit Luftschlangen umwickelt und die Opferstelle der Pachamama mit Bier bespritzt und
Konfetti bestreut. Dann haben wir zusammen gegrillt und mir wurde beigebracht
auf einem Pferd zu reiten.
Am Mittwoch, der wirklich letzte Tag des Karneval, haben wir
mit der Familie den ganzen Mittag gegrillt und sind dann noch mit ein paar
Freunden zu einem Nachbardorf, Padilla,
gefahren, weil dort immer noch Märkte aufgebaut waren und viel Bier getrunken
wurde.
Heute ist Freitag und eigentlich sollte nach diesem Wochenende am Montag die Schule wieder anfangen, wenn da nicht diese Tragödie passiert wäre.
Frisches Fleisch fuer den Grill!
Ich beim Pepperoni mahlen fuer scharfe Sosse, Llajua
Die Hostelfamilie :-)
Heute ist Freitag und eigentlich sollte nach diesem Wochenende am Montag die Schule wieder anfangen, wenn da nicht diese Tragödie passiert wäre.
In der Regenzeit gib es öfter heftige Schauer bei uns, die
die Flüsse voller werden lassen und manchmal kommt es vor, dass es weiter oben
in den Bergen regnet, der Fluss sich füllt und gigantische Stromschnellen
Richtung Tal herangerast kommen.
Und diese Stromschnellen sind so stark, mit ihren
Baumstämmen und Steinen die sie mitspülen, dass sie alles mitreißen was am Ufer
ist. So ist gestern das schreckliche Unglück geschehen, dass eine Mutter ihre
Kinder nach Hause aufs Land geschickt hat und sie mussten auf dem Weg an
einigen Stellen den Fluss überqueren (ohne Brücken versteht sich). Auf einmal
kam die Welle von flussaufwärts und riss eins der Kinder in den Tod. Weit
hinter unserem Dorf, flussabwärts haben sie das Kind nach einigen Stunden
gefunden. Nun ist das ganze Dorf natürlich erschüttert, denn auch wenn das
öfter passiert (vor 2 Monaten zum Beispiel haben 2 Kinder am Fluss gespielt und
wurden von einer Welle mitgerissen), sind die Eltern, die auf dem Land leben,
nun voller Angst ihre Kinder runter ins Dorf zur Schule zu schicken. So werden
wir wahrscheinlich noch etwas auf die Schüler warten müssen, bis die Regenzeit
vorbei ist und die Kinder vom Land ihren Schulweg sicher zurücklegen können.
So weit die neuesten Nachrichten aus Alcalá, Bolivien. Ich
schicke warme Grüße nach Deutschland.
que seamos imparables!
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